Heidrun Milde: „Ein reichhaltiges Leben“

Mitte der Achtzigerjahre ist Heidrun Milde Mitte Zwanzig – und auf dem besten Weg zur anerkannten Sopranistin. Doch dann verlangt das Leben der zweifachen Mutter eine schwere Entscheidung ab: Soll sie sich ganz auf ihre Karriere konzentrieren oder steht doch die Familie an erster Stelle? Was die Dresdnerin durch den Abbruch ihrer Opernlaufbahn verloren und was sie als Logopädin in Vorarlberg gewonnen hat, hat sie im Gespräch mit Carmen Jurkovic-Burtscher bei den ArbeitsLebensGeschichten in der Schaffarei in Feldkirch erzählt.

Heidrun Milde ist zwölf Jahre alt, als ihr Musiklehrer an der Allgemeinen Polytechnischen Oberschule ihr musikalisches Talent entdeckt. Er legt Heidrun nahe, ein Instrument zu lernen. Die Wahl fällt auf Akkordeon, später lernt sie Klavier, fasst sogar ein Studium ins Auge.

Um dort weiterzumachen, fehlt es jedoch an Unterrichtsmöglichkeiten. Also wird ihr empfohlen, stattdessen Gesangsunterricht zu nehmen. Damit nimmt eine Karriere ihren Anfang, die das Potenzial hat, groß zu werden.

Sieben Jahre Studium und zwei Kinder

Heidrun Milde zieht nach Dresden und studiert Gesang. Sieben Jahre dauert die Ausbildung, die weit über das Singen hinausgeht: Neben Bühnentanz, Tonsatz, Gehörbildung, Ensemble-Unterricht, Musikgeschichte und Schauspielunterricht stehen politische Ökonomie und auch eine sechswöchige paramilitärische Grundausbildung auf dem Lehrplan ganz oben.

Nach Abschluss ihres Studiums im Jahr 1980 nimmt Heidrun an dem damals verpflichtenden Vorsingen beim zentralen Bühnennachweis tel. Hier werden alle Absolvent:innen eines Jahrgangs geeigneten Engagements zugeteilt. Heidrun wird als Soubrette eingestuft und an das Bergtheater in Senftenberg vermittelt.

Dort bleibt sie sechs Jahre, singt Rollen in Operetten wie die „Bella“ in Franz Lehárs „Paganini“ oder die „Julia“ in „Der Vetter aus Dingsda“. Auch ihr Privatleben entwickelt sich so, wie sie es sich immer gewünscht hat: Heidrun heiratet und wird mit 28 Jahren das zweite Mal Mutter.

Doch obwohl es in der DDR ganz normal ist, dass Mütter berufstätig sind und die Kinderbetreuung dementsprechend gut ausgebaut ist, bringt sie die Situation mit zwei kleinen Kindern an ihre Grenzen. 80 Kilometer für einen Arbeitsweg und mehrere Abendauftritte pro Woche, das ist bald nicht mehr machbar.

 

„Ich wollte immer zwei Kinder. Mein Ziel war es, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen.“

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Vom Chor …

Heidrun Milde sucht ein Engagement, näher bei der Familie. Sie bewirbt sich für eine Stelle im Chor der erst 1985 wiedereröffneten Semperoper in Dresden. Dort wird sie mit offenen Händen aufgenommen. Auch wenn es der Sängerin schwerfällt, sich in einen Chor einzufügen – die Aussicht auf mehrere Gastspiele im Ausland reizt sie. Doch es soll bei der Vorfreude bleiben.

Trotz Zusagen und akribischer Vorbereitung wird sie nicht ins Gastspiel-Ensemble geholt. Die Enttäuschung ist groß. Nur eineinhalb Jahre später verlässt sie den Chor und nimmt wieder eine Solisten-Stelle am Deutsch-Sorbischen Volkstheater in Bauzen an.

 

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… auf die Karriereleiter

Der damalige Oberspielleiter am Deutsch-Sorbischen Volkstheater engagiert Heidrun Milde im Sommer 1988 und will sie zur Operetten-Diva aufbauen. Sie singt Rollen wie die „Clivia“ in der gleichnamigen Operette von Nico Dostal. Mit einem Fuß auf der Karriereleiter ist die damals 29-Jährige auf dem besten Weg zu ihrem Durchbruch.

Doch vor ihrem Aufstieg kommt der Fall der Berliner Mauer. Die Wende ändert alles. Das Ensemble des Deutsch-Sorbischen Volkstheaters wird aufgelöst, Heidrun Milde wie alle Kolleg:innen entlassen. In dieser chaotischen Zeit des Auf- und Umbruchs ein neues Engagement zu finden, ist aussichtslos.

„Natürlich hätte ich damals schon nach Bregenz oder nach Rostock gehen können“, sagt Heidrun rückblickend. „Doch die Kinder waren mit vier und sieben Jahren noch zu klein, als dass das für mich eine realistische Option gewesen wäre.“

Während Heidrun nach Alternativen sucht, wird ihr damaliger Ehemann in der Selbstständigkeit im EDV-Bereich fündig. Der Markt ist ausgetrocknet und anfangs sieht es so aus, als würde er sein Ziel, ein erfolgreicher Unternehmer zu werden, tatsächlich erreichen.

Heidrun geht schließlich in eine ganz andere Richtung: Sie lässt sich zur Finanzberaterin ausbilden. „Ich wollte etwas Sinnvolles machen, das anderen hilft und was ich bis zur Rente machen kann. Den Leuten beim Sparen zu helfen erschien mir damals als gute Möglichkeit, das zu tun“, sagt sie rückblickend.

Was Heidrun auf den Schulungen erfährt, klingt gut in ihren Ohren. Dass in dieser Form des Strukturvertriebs schlussendlich nur ein paar wenige profitieren, wird ihr erst sehr viel später klar.

„Ich wollte etwas Sinnvolles machen, das anderen hilft und was ich bis zur Rente machen kann. Den Leuten beim Sparen zu helfen erschien mir damals als gute Möglichkeit, das zu tun.“

Fast zehn Jahre vergehen, in der Heidruns Skepsis der Branche gegenüber wächst, während sich die Selbstständigkeit ihres Mannes nicht so entwickelt wie erwartet. Zwar reicht es, um einen Kredit aufzunehmen und ein Haus zu bauen. Doch Heidrun möchte der Finanzbranche den Rücken kehren und endlich wieder mit einem regelmäßigen Einkommen rechnen können.

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Fürs Singen zu spät

Fürs Singen allerdings ist es zu spät. Was also tun? Kulturmanagement ist eine Option. Doch hier gibt es keinen Bedarf. Logopädie ist eine andere Idee. Mit Mitte Vierzig entschließt Heidrun Milde sich, die dreijährige Ausbildung in Angriff zu nehmen.

Finanzielle Unterstützung erhält sie durch eine Förderung vom Europäischen Sozialfonds. Ihren Abschluss macht Heidrun 2004, im selben Jahr, in dem ihr Sohn maturiert – die Tochter studiert bereits in Berlin.

Auch wenn der erste Urlaub im Ausland inzwischen schon eine Zeitlang her ist: Für Heidrun kommt jetzt die Gelegenheit, auch beruflich raus zu kommen. Sie bewirbt sich an drei Häusern „in der Bodensee-Ecke“ – und erhält von allen eine Zusage.

Aus fünf Monaten werden 20 Jahre

2004 tritt Heidrun Milde ihre Stelle als Logopädin am Landeskrankenhaus Rankweil an – vorerst mit einem auf fünf Monate befristeten Vertrag. Rasch findet sich die ehemalige DDR-Staatsbürgerin in Vorarlberg ein, auch der Dialekt wird mehr und mehr durchschaubar.

Ihn selbst zu sprechen, hat sie gar nicht erst versucht. „Mir war nur wichtig, dass meine Patient:innen ihre Sprache nach einer neurologischen Erkrankung wieder richtig lernen und ich die Besonderheiten des Dialekts von einer Sprachstörung unterscheiden kann“, erklärt die Logopädin schmunzelnd.

Mit ihrer langjährigen Heimatstadt Dresden verbindet Heidrun Milde nur noch wenig. Die Kinder sind aus dem Haus, die Beziehung zu ihrem Mann geht die Brüche. Immer seltener nimmt sie die 650 Kilometer lange Fahrt auf sich. Nach zwei Jahren beschließt sie, ganz in Vorarlberg zu bleiben.

Geworden sind es schlussendlich 20 Jahre, bis Heidrun Milde 2022 in den Ruhestand geht. Zurück nach Deutschland zu gehen, kann sie sich auch nach ihrem aktiven Arbeitsleben nicht vorstellen. In Vorarlberg hat sie ihre zweite Heimat und ein, wies sie sagt „reichhaltiges Leben“ gefunden.

Heidrun Milde hat ihren Frieden gemacht mit den Umwegen ihrer Karriere. Denn auch wenn die Kunst in den Hintergrund gerückt ist, schlussendlich hat sie doch noch einen Beruf ausgeübt, der Sinn stiftet, anderen hilft und den sie bis zu Rente machen konnte.

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