Sebastian Gerer: Ich muss meinem Gefühl nachgehen.

ALG Sebastian Gerer

Wirklich geplant war in Sebastian Gerers Arbeitsleben eigentlich gar nichts. Doch wie kommt ein gelernter Einzelhandelskaufmann aus Bayern als Zirkuspädagoge nach Vorarlberg? Eine lange Geschichte, die viel mit Neugier, mit Begeisterung für Musik und Bewegung und mit dem Mut zu tun hat, seinem Gefühl nachzugehen, auch wenn es ihn in eine unerwartete Richtung zieht.

„Ich habe den ganzen Tag Hosen und Krawatten verkauft. Das war nicht gerade das, was ich mir mit 16 vom Leben erwartet habe“, erzählt Sebastian. Der Sohn eines Kaufmanns aus Wasserburg am Inn absolviert gerade seine Lehre im Einzelhandel im 40 Kilometer entfernten Kaufhaus seines Onkels. Eine eher triste Zeit für den Jugendlichen, der sich viel lieber mit Ballsport und Musik beschäftigt als mit Herrenoberbekleidung. Seine Rettung: Die Band, in der er seit seiner Schulzeit singt. „Bei unserer Musik ging es hauptsächlich darum, ins Mikro zu schreien und auch sonst möglichst laut zu sein, das war ein super Ventil“, erzählt Sebastian schmunzelnd.

Von Ehrgeiz und Ehrenrunden

Nach der Lehre arbeitet er kurz bei seinem Vater, absolviert dann seinen Zivildienst und jobbt im Anschluss für ein paar Monate im Restaurant seines Cousins in Prag. Als auch das nichts ist, steht erneut die Frage „Und was jetzt?“ im Raum. Obwohl er seine schwierige Schulzeit noch lebhaft in Erinnerung hat, beschließt Sebastian, das Fachabitur nachzuholen – und scheitert prompt im ersten Anlauf. Doch er will seinem inneren Revoluzzer nicht das letzte Wort lassen. „Ich habe mich schon gefragt, ob ich mir das nochmal geben soll. Aber dann ist der Ehrgeiz in mir durchgekommen, und ich dachte mir: Das ziehe ich jetzt durch“, sagt er. Beim zweiten Anlauf schafft Sebastian das Abitur. Doch statt zu studieren, was ursprünglich eine denkbare Möglichkeiten gewesen wäre, entscheidet er sich dagegen – ohne so recht zu wissen, was er stattdessen tun soll.

„Ich habe mich schon gefragt, ob ich mir das nochmal geben soll. Aber dann ist der Ehrgeiz in mir durchgekommen, und ich dachte mir: Das ziehe ich jetzt durch.“

Schlussendlich geht Sebastian nach München, um dort im Muffatwerk zu jobben. „Die Location hat mir getaugt, es gab dort coole Konzerte und nette Leute, also habe ich einfach gefragt, ob sie einen Job für mich haben“. Hatten sie. Er hilft beim Auf- und Abbau, beim Einlass und auch sonst überall, wo seine Unterstützung gebraucht wird.

Ein Diabolo wirf alles durcheinander

In dieser Zeit wohnt Sebastian in einem Vorort von München in einer WG auf einem Bauernhof. Dort liegt ein Spielzeug herum, das seinem Leben in den kommenden Jahren eine entscheidende Wendung geben sollte: ein Diabolo. Sein Mitbewohner zeigt Sebastian, wie das Spiel funktioniert und legt damit, ohne dass einer von ihnen es auch nur geahnt hätte, den Grundstein für dessen spätere Karriere.

Doch ein Diabolo alleine macht noch keinen Artisten, diese Entwicklung sollte noch ein paar Jahre in Anspruch nehmen. Sie beginnt mit dem Besuch bei einem alten Bekannten in Berlin. Drei Wochen verbringt Sebastian dort – und bleibt schließlich.

Wo kann ich das lernen?

Mit seiner Erfahrung mit Bühnentechnik fasst der junge Bayer in Berlin schnell Fuß im Eventbereich und spielt ab und zu zum Spaß mit dem Diabolo im Park. Durch Zufall wird er wenig später auf die Jonglierkatakomben aufmerksam. Dort sieht er eine Show des Jonglierkünstlers Stefan Sing, die bei ihm einschlägt wie der Blitz.

Nach der Show erkundigt sich Sebastian, wo er das Jonglieren lernen kann. Er bekommt einen Tipp für einen Kurs – und so geht es los. Einfach zu fragen, sei es um etwas zu lernen oder um einen Job oder eine Wohnung zu bekommen, zieht sich wie ein roter Faden durch Sebastians Leben. Ist das sein Erfolgsrezept? „Keine Ahnung“, sagt er. „Ich habe einfach gemerkt: Ich muss meinem Gefühl nachgehen. Wenn es mich irgendwo total hinzieht, mache ich das, oder probiere es zumindest aus.“

„Ich muss meinem Gefühl nachgehen. Wenn es mich irgendwo total hinzieht, mache ich das, oder probiere es zumindest aus.“

Nicht nur das Jonglieren tut es ihm an, auch bei den Jonglierkatakomben bleibt Sebastian kleben: Als im selben Gebäude eine Wohnung frei wird, zieht er dort ein und trainiert immer häufiger. Damit kommt nach und nach auch der Plan auf, selbst aufzutreten. Als er Holger kennenlernt, der wie er gerne mit dem Diabolo spielt, tun sie sich zusammen. Die Grundidee ihrer Show: Während der eine an der Loop-Station oder am Schlagzeug einen Beat erzeugt, spielt der andere Diabolo. Was mit einer siebenminütigen Varieté-Nummer beginnt, wird später zu einer 40-minütigen Show in unterschiedlichsten Variationen.

Eine umtriebige Phase

Neben der Diabolo-Show mit Holger arbeitet Sebastian nach wie vor als Event-Techniker, spielt und singt in einer Band und tritt mit seiner Loop-Station als Solo-Künstler auf. Eines Tages kommt Marco, ein argentinischer Jongleur, auf ihn zu und möchte, dass Sebastian auch seine Shows mit der Loop-Station begleitet. Zusammen gründen sie das Projekt „Stuff“ mit dem sie weltweit auftreten.

Als die vielen Termine sich jedoch immer öfter überschneiden, führt das zum Bruch mit Marco. Doch die nächste Aufgabe lässt nicht lange auf sich warten: Ein befreundeter Artist leitet eine Diabolo-Gruppe in einem Kinderzirkus. Ab und zu vertritt Sebastian ihn und übernimmt schließlich die Gruppe ganz. Die Ergänzung ist ideal. „Es hat mir von Anfang an Spaß gemacht, das was ich liebe an andere weiterzugeben“, erzählt Sebastian. Die Arbeit mit den Kindern macht ihm Freude und er befasst sich intensiver mit der „Materie Zirkuspädagogik“.

Es hat mir von Anfang an Spaß gemacht, das was ich liebe an andere weiterzugeben.

Der Funke springt über

Es läuft richtig gut für Sebastian. Er kann von seiner Kunst und der Arbeit im Kinderzirkus leben – doch schon bald steht er erneut vor einer Situation, in der ihn sein Gefühl in eine ganz neue Richtung zieht, dieses Mal allerdings privat. Auf dem „Bamberg zaubert“-Festival in der gleichnamigen Stadt in Bayern lernt er die junge Feuerkünstlerin Raffaela kennen und der Funke springt über. Das gibt für Sebastian den Ausschlag, Berlin zu verlassen und nach Vorarlberg zu ziehen. „Für mich hat sich das ein Stückweit angefühlt wie ‚back to the roots‘“, erzählt Sebastian und ergänzt schmunzelnd: „Im Grunde bin ich eben doch ein Landei.“ Doch beruflich bedeutet die neue Lebenssituation für ihn erneut: Nochmal von vorn.

Zack & Poing

2012 gründen Raffaela und Sebastian zusammen mit drei weiteren Artist:innen den Verein „Zack & Poing“. Der Vereinszweck: „Die Förderung von Bewegung, Kunst und Kultur“. Das erste Angebot, ein interkulturelles „Kunterbuntes Kinderatelier“ im autonomen Kulturzentrum ProKontra in Hohenems, gibt es heute noch. Inzwischen hat der Verein jedoch auch eigene Räumlichkeiten und ein breit gefächertes Programm. In der Zirkushalle in Dornbirn bietet das Team gemeinsam mit wechselnden Gast-Artist:innen und Clown-Künstler:innen zirkuspädagogische Kurse, Workshops, Trainings und Ausbildungen für Kinder und Erwachsene. Von der Kinder-Zirkuswerkstatt über den Eltern-Kind-Zirkus bis zum Jugend-Ensemble– das Angebot richtet sich an alle, von der Anfängerin bis zum Profi. Das Besondere an der Zirkuspädagogik: „Man macht ziemlich schnell die Erfahrung: ‚Ich kann das’, damit fassen gerade Kinder Vertrauen in sich und ihre Fähigkeiten“, erklärt Sebastian. Dass Gemeinsame ohne Konkurrenzdenken und die Freude, die von den Artist:innen auf das Publikum übergeht, faszinieren Sebastian nach wie vor. Es könnte auch gut sein, dass er selbst bald wieder auf der Bühne steht. Mal sehen, wo sein Gefühl ihn noch hinzieht.

In der Zirkuspädagogik macht man ziemlich schnell die Erfahrung: ‚Ich kann das’, damit fassen gerade Kinder Vertrauen in sich und ihre Fähigkeiten“

PS: Eine Gelegenheit, sich selbst als Artist:innen auszuprobieren, hatten die Gäste übrigens gleich im Anschluss an Sebastians ArbeitsLebensGeschichte: Ein Micro-Workshop in Jonglage, an den Flowersticks, mit Balancier-Tellern und natürlich mit einem Diabolo ließ den Abend mit viel Spaß und dem einen oder anderen (beinahe) zirkusreifen Erfolgserlebnis ausklingen.

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