Gerold Reisinger: „Ich bin gerne für die Menschen da“

Für Gerold Reisinger ist schon als kleiner Junge klar: Er macht mal „was mit Gott“. Mit Anfang 30 betreut er als Kaplan mehrere Gemeinden in Vorarlberg. Heute ist er Personalchef in der Privatwirtschaft.

Warum er seiner ursprünglichen Berufung den Rücken gekehrt hat und welche Ähnlichkeiten die HR-Branche mit dem Dienst in der Kirche hat, hat er bei den ArbeitsLebensGeschichten mit Carmen Jurkovic-Burtscher in der Schaffarei erzählt.

Während andere Fünfjährige davon träumen, Rennfahrer, Pilot oder Feuerwehrmann zu werden, träumt Gerold davon, eines Tages Kapuziner zu sein. Die Helden seiner Kindheit heißen nicht etwa Captain Future oder Indiana Jones, sondern Franz von Assisi und Pater Gaudentius. Gerold wird Ministrant in der Kapuzinerkirche in Dornbirn und erlebt das klösterliche Leben aus der Nähe.

Die Gemeinschaft, vor allem aber die authentische Nächstenliebe, mit der die Kapuziner-Mönche das Christentum leben, faszinieren ihn. Sein Entschluss festigt sich: Auch er möchte in dieser Form für die Menschen da sein.

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Studium in Rom und Innsbruck

Als es nach der Matura darum geht, in einen Orden einzutreten, entscheidet sich der inzwischen 19-Jährige jedoch für die Ordensgemeinschaft „Das Werk“. „Im Werk waren viel mehr junge Leute und die Organisation ist international aufgestellt“, sagt Gerold rückblickend. Er zieht nach Rom und studiert dort Theologie und Philosophie. Später geht er nach Innsbruck und studiert Religionspädagogik, um neben der Volksschule auch an höheren Schulen Religion unterrichten zu dürfen. 2010 wird Gerold Reisinger in Bregenz zum Priester geweiht. Auch wenn er persönlich nie negative Erfahrungen gemacht hat, wiegen die damals auftretenden Missbrauchsvorwürfe gegen „Das Werk“ schwer für den jungen Geistlichen. Deshalb tritt er aus der Ordensgemeinschaft aus und wird Diözesanpriester. Gerold arbeitet als Kaplan im Pfarrverband Sibratsgfäll-Hittisau. Später wechselt er nach Gisingen und schließlich nach Langen-Sulzberg-Thal.

Seine Aufgaben sind vielfältig: Taufen, Hochzeiten, Beerdigungen, auch die Krankenkommunion und die Begleitung von Sterbenden gehören dazu. Daneben unterrichtet er und kümmert sich um Verwaltungsaufgaben. Am wenigsten Arbeit habe er mit Beichten gehabt, sagt Gerold und muss lachen.

 

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Was tun, wenn einem der Glaube abhandenkommt?

Seine Aufgaben machen im Spaß. Doch die immer größer werdenden Pfarrverbände mit mehreren Gemeinden sind ein Stressfaktor. Sich bei so vielen Gläubigen um jeden Menschen so kümmern zu können, wie es seinen Vorstellungen entspricht, wird für Gerold immer schwieriger. Dazu kommt der Verwaltungsaufwand: 16 Kapellen, vier Pfarrhäuser, drei Kirchen und ein Seniorenheim – das ist viel Arbeit im Hintergrund, die wenig mit Seelsorge zu tun hat. Gerold fällt es zunehmend schwer, authentisch zu bleiben und jenen Jesus zu predigen, den er in der Bibel vorfindet. Er beginnt zu zweifeln. Kann er noch zu hundert Prozent hinter der katholischen Kirche und dem, was sie lehrt, stehen? Wie kann er als vernünftiger Mensch etwa an die Jungfräulichkeit Marias glauben? „Irgendwann musste ich mir die Frage stellen: Bin ich überhaupt noch katholisch?“, sagt er rückblickend.

 

„Irgendwann musste ich mir die Frage stellen: Bin ich überhaupt noch katholisch?“

 

Die Entscheidung, sein Amt niederzulegen, trifft er jedoch nicht leichtfertig. Er nutzt die Zusage der Universität Oxford für den Studiengang „Science and Religion“ als einjährige Bedenkzeit. Während des Studiums wird dem damals 34-Jährigen klar: Sieben Jahre als Kaplan sind genug. Gerold legt sein Amt nieder. Was als Nächstes folgen soll, weiß zunächst jedoch nur der Himmel. Für einen Moment der Erkenntnis sorgt dann ein Workshop einer schottischen Großbank zum Thema „Transferable Skills“, an dem Gerold in Oxford teilnimmt. „In den zwei Tagen hat sich bei mir ein Schalter umgelegt. Mir ist bewusst geworden, dass das, was ich studiert und an Erfahrungen gesammelt habe, auch in der Privatwirtschaft gebraucht wird“, sagt er. Den Workshop beendet er mit einem Jobangebot in der Tasche. Doch in Hinblick auf den sich anbahnenden Brexit entschließt sich Gerold, nach Vorarlberg zurückzukehren.

Vom Priester zum Personalmanager

Sein gestärktes Selbstbewusstsein nutzt er, um sich im Personalwesen zu bewerben, weil er nach wie vor mit Menschen arbeiten möchte. In einer Personalvermittlungsagentur bekommt Gerold schließlich die Möglichkeit, in die Branche einzusteigen. Nach einigen Monaten landet hier eine Anfrage von seinem heutigen Arbeitgeber auf seinem Tisch.

„Sie haben einen Personalchef gesucht. Ich habe ihnen einige Leute geschickt, die definitiv sehr gut für diesen Job geeignet gewesen wären“, sagt er. Doch keiner davon will so recht passen. Schlussendlich bekommt er selbst das Angebot für die Stelle – und nimmt es an.

Seit 2019 leitet Gerold Reisinger die Personalabteilung von Mersen in Hittisau. Das Unternehmen ist Teil eines französischen Konzerns mit 7000 Mitarbeitenden und stellt Schlüsselkomponenten für die Wind- und Wasserkraftindustrie her. Am Standort ist Gerold mit seinem Team zuständig für die Personalverwaltung und -entwicklung von 150 Mitarbeitenden. Er leitet Schulungen und Trainings, kümmert sich ums Gesundheitsmanagement und ums Reporting. Darüber hinaus ist er konzernübergreifend für das Employer Branding, also für das Personalmarketing mit verantwortlich.

In seiner jetzigen Tätigkeit gibt es durchaus Parallelen zu seinem bisherigen Job. Da zu sein für die Menschen, sich ihre Sorgen anzuhören und Vermittler zur Chefetage zu sein, gehört auch jetzt wieder zur Gerolds Job-Description. Was ihm an wirtschaftlichem Hintergrund fehlt, holt er gerade in seinem fünften Studium nach, einem Masterstudiengang in Business Management. In seiner Masterarbeit beschäftigt Gerold sich eingehend mit dem Thema Glück am Arbeitsplatz. Denn dass die Menschen glücklich sind, ist ihm auch als Personalchef ein großes Anliegen.

 

„Glück am Arbeitsplatz ist weniger vom Außen bestimmt, als man denkt.“

 

„Glück am Arbeitsplatz ist weniger vom Außen bestimmt, als man denkt“, ist Gerold überzeugt. Ob jemand glücklich ist oder nicht, hänge zu 95 Prozent von der eigenen Einstellung ab. Das sei keineswegs ein Freibrief für Arbeitgeber, zu tun, was sie wollen. Vielmehr sei es eine gute Nachricht für Arbeitnehmende, da sie nicht so sehr auf die äußeren Umstände angewiesen seien, wie sie vielleicht denken. Es seien vor allem ganz einfache Dinge, die man tun könne, um sich glücklicher zu fühlen. Dinge, die auch in der Religion seit tausenden von Jahren einen Platz hätten. Dankbarkeit zu pflegen, zum Beispiel.

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Einmal im Jahr etwa üben Gerold und sein Team sich deshalb 21 Tage lang in Dankbarkeit. Jeden Morgen teilt jede und jeder drei Dinge mit den anderen, für die sie oder er dankbar im Job ist. Die positiven Effekte dieser Dankbarkeitsübung würden sich nicht nur sofort in der Stimmung zeigen, sondern können laut Studien auch messbare dauerhafte Veränderungen mit sich bringen: in der Zufriedenheit und der Konzentrationsfähigkeit am Arbeitsplatz, bei der Anzahl und Dauer der Krankenstände – und sogar beim Gehalt.

Ein paar Minuten der Ruhe und inneren Einkehr am Tag hätten ebenfalls positive Auswirkungen. Solche Dinge versucht Gerold – heute ohne religiösen Bezug – am Arbeitsplatz einzuführen  und auch selbst zu praktizieren. Wenig verwunderlich daher auch seine Antwort auf die letzte Frage des Abends. Die, ob er selbst glücklich sei in seinem Arbeitsleben: „Ja“, sagt er schlicht – und ergänzt nach kurzem Überlegen: „Ich habe nie bereut, den Dienst in der Kirche gemacht zu haben. Aber ich habe auch nie bereut, in verlassen zu haben.“

„Ich habe nie bereut, den Dienst in der Kirche gemacht zu haben. Aber ich habe auch nie bereut, in verlassen zu haben.“

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